Als wir Michelle Gisin zum Interview treffen, ist es noch sommerlich warm. «Ich mag jede Jahreszeit», meint die erfolgreiche Wintersportlerin, «sogar, wenn es heiss ist.» Da sie am Gardasee in Italien wohne, sei sie die Sommerhitze gewöhnt. Abkühlung finden sie und ihr Lebenspartner Luca De Aliprandini (von Helvetia Italien gesponserter Skiathlet) jederzeit: Sei es beim Baden, beim Windsurfen auf dem See oder im Kraftraum, den sie in ihrem gemeinsamen Heim im Untergeschoss eingebaut haben. So freuen sie sich gerade bei Hitze auf ihr tägliches Krafttraining.
«Nein, eigentlich überhaupt nicht. Ich bin vom Naturell her lieber auf der sicheren Seite. Aber ich bin experimentierfreudig. Ich probiere gerne immer wieder neue Dinge aus und trainiere so lange, bis ich sie beherrsche. Wenn ich mich sicher fühle, dann kann ich loslassen - mich auf meinen Instinkt verlassen und mehr riskieren.»
«Ich bin nicht diejenige, die ihr letztes Hemd riskiert.»
«Ich bin eine Athletin, die sich weiterentwickeln möchte und in irgendeinem Bereich immer wieder etwas Neues, eine neue Herausforderung sucht. In diesem Sinne gehe ich also schon hin und wieder Risiken ein – oder eben: Experimente. Vielleicht war nicht jeder Entscheid richtig. Manche Dinge brauchen mehr Zeit. Sehr oft aber hat es gut funktioniert. Zum Beispiel, als ich von Slalom auf Speed gewechselt habe. Ich hatte die Sicherheit: Im Slalom gehörst du zu den Top 15 der Welt – du musst dich also nicht sofort auch im Speed beweisen. Ich habe viel in meine physische Weiterentwicklung investiert. Das zahlt sich jetzt aus: Ich bin neue Rekordhalterin in der Anzahl Weltcup-Rennen in einer Saison. Daher würde ich sagen, dieses Streben nach neuen Herausforderungen ist mein Erfolgsrezept.»
«Als Erstes fällt mir der Sturz meines Bruders Marc damals 2018 in Gröden ein. Es fühlte sich an, als ob die Welt anhalten würde – alles andere verliert an Wichtigkeit.»
Persönlich aus der Bahn geworfen hat sie vor zwei Jahren das Pfeiffersche Drüsenfieber. «Ich musste Anfang Juli alle Termine für die nächsten drei Monate absagen. Und ich hatte keine Ahnung, wie lange es wirklich dauern würde. Das fühlte sich völlig absurd an. Denn normalerweise bin ich ja für Wochen und Monate täglich bis zu 16 Stunden durchgeplant. Doch mit dieser Krankheit habe ich gelernt: Manchmal muss man einfach akzeptieren, dass es nicht so läuft, wie man es sich vorstellt.»
«Natürlich habe ich mich durch das Erlebnis mit dem Pfeifferschen Drüsenfieber mit dieser Frage auseinandersetzen müssen. Denn es gibt Athletinnen und Athleten in meinem Alter, die es nach dieser Krankheit nicht mehr zurückgeschafft haben. Zum Glück ist es anders gekommen. Die letzten zwei Jahre sind körperlich hart gewesen. Doch ich konnte mir zu jedem Zeitpunkt sagen: Du hast alles erreicht – viel mehr als du dir je vorgestellt hast. Was jetzt kommt, ist Bonus!»
Mit dieser positiven Einstellung hat Michelle in jener Saison 20/21 für sie unerwartet gute Ergebnisse erzielt und mehrere Podestplätze erreicht. «Auch wenn ich in der Saison zuvor Dritte im Gesamtweltcup gewesen war – diese Saison war für mich persönlich mit Abstand die beste - weil ich nichts erwartet hatte.» Auch im letzten Winter hat sie mit Resultaten gekämpft. Aber sie sei so froh und dankbar darüber gewesen, Rennen fahren zu können, dass sie bei jedem Rennen mit einem Lächeln am Start gestanden sei. Wäre es nicht so gelaufen, «hätte ich auch einen Plan B, C oder D gehabt. Bisher ist aber Plan A aufgegangen. Und ich hoffe, dass ich noch ein paar Jahre fahren und meine Karriere zu dem Moment beenden kann, wenn ich das möchte.»
«Ich hab mir gesagt: Du hast alles erreicht – viel mehr als du dir je vorgestellt hast. Was jetzt kommt, ist Bonus!»
«Als Selbstständigerwerbende ist die Vorsorge extrem wichtig. Insbesondere, weil bei uns Athletinnen und Athleten der Einkommenspeak in verhältnismässig jungen Jahren stattfindet, müssen wir uns früh mit der Vorsorge auseinandersetzen. Wir werden auch verbandsseitig auf das Thema sensibilisiert. Mit meinem Versicherungsberater bei Helvetia habe ich zum Glück einen kompetenten Partner für meine Versicherungs- und Vorsorgefragen.»
Ja, ich finde, Versicherungen sind etwas wahnsinnig Wichtiges. Man sollte seine Risiken kennen und sie einschätzen. Ich begehe ja auch zuerst eine Rennstrecke und schätze sie ein, bevor ich an den Start gehe. Es ist wichtig, einen persönlichen Versicherungsberater zu haben. So weiss ich auch immer, wo ich anklopfen kann, wenn ich zum Beispiel einen Kratzer am Auto habe.
Demnächst steht eine weitere Veränderung in Michelles Leben an. Ihr allergrösster Traum, wie sie sagt, geht in Erfüllung: Ein eigenes Haus in ihrer Heimat in Engelberg. Denn bisher wohnt Michelle jeweils bei ihren Eltern, wenn sie sich in der Schweiz aufhält. Lange hatte sie nicht damit gerechnet, Bauland zu finden. Nun sind die Pläne fertig und der Bau soll demnächst beginnen. «In Engelberg sind meine Wurzeln. Ich freue mich riesig darauf. So werde ich in Zukunft an den beiden schönsten Orten, die ich mir vorstellen kann, ein eigenes Zuhause haben.»